Die Wirtschaftswelt verändert sich rasend schnell, Unternehmen müssen sich neu erfinden, Angestellte sich neuen Begebenheiten anpassen. Katja Gentinetta analysiert als politische Philosophin die grossen Strömungen und unterstützt Unternehmen dabei, mit den Unsicherheiten umzugehen. Die Strategieberaterin rät, sich dem Wandel der Arbeitswelt mit Engagement und Leidenschaft zu stellen.
Frau Gentinetta, Digitalisierung, Wirtschaft 4.0, disruptive Kräfte: Wie schafft die Wirtschaft diesen Umbruch?
Es ist nicht selbstverständlich, dass ein Unternehmen reagieren kann. Die richtige Strategie zu finden, ist viel schwieriger geworden, es braucht viel mehr Flexibi lität. Wichtig ist, die Kernkompetenz zu stärken und Spielräume zu schaffen, um rasch auf Neues reagieren zu können.
Das schafft aber vor allem Unsicherheiten – im Markt und in der Belegschaft.
Ja, die Unsicherheit steigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte sich die Gesellschaft daran gewöhnt, dass alles immer aufwärtsgeht. Die Ölkrise in den Siebzigerjahren war ein erster Einschnitt, die weltweite Finanzkrise 2008 ein grosser Bruch. Seither wissen wir, dass nichts mehr sicher ist.
«Wir werden alle mehr Verantwortung übernehmen müssen. Wir sind uns das mit der direkten Demokratie gewohnt.»
Ein Unternehmen braucht einen Fokus. Wie verträgt sich das mit Flexibilität?
Der Fokus ist wichtig. Nicht nur für Unternehmen, wir alle müssen unsere Kernkompetenz finden. Und dann offen sein! Es kann sein, dass unsere Kernkompetenz in anderer Form gefragt oder in einem anderen Umfeld eingesetzt wird. Damit müssen wir umgehen können.
In Ihrem Buch «Haben Unternehmen eine Heimat?» analysierten Sie die Frage nach den Wurzeln. Nun beraten Sie Firmen wie die BKW im Strategieprozess. Der bernische Konzern hat sich zum international tätigen Energie- und Infrastrukturunternehmen entwickelt. Was geschieht da mit der Heimat?
Wir sind mit Verantwortlichen der BKW vor ein paar Jahren durchs Versorgungsgebiet gereist, haben mit Kunden, Gemeinden, Partnern gesprochen. Was herauskam, war interessant: Alle fanden, die BKW gehöre zu ihnen oder noch stärker – gehöre ihnen, da der Kanton Bern Hauptaktionär ist. Das zeigt die tiefe Verwurzelung. Wenn eine solche Firma wächst, auch durch Zukauf neuer Firmen aus anderen Gebieten, ist es wichtig, Heimat und Herkunft trotzdem zu behalten und regional verankert zu bleiben, sofern dies möglich ist. Im Falle der BKW ist es ein guter Entscheid, auf die Zusammenarbeit in Netzwerken und auf eine innovative Organisationsform zu setzen, die von der Herkunft in die Zukunft weist.
Für die Angestellten ist das oft schwierig. Wie sollen sie sich verhalten?
Wandel ist für niemand einfach. Es gilt zu wissen, was man gut kann. Wer sich auf die drei Pfeiler Ethik, Exzellenz und Engagement stützt, der hat beste Chancen: Die Arbeit muss moralisch vertretbar sein, man muss sie mit hohem Qualitätsanspruch erfüllen und mit Leidenschaft ausführen. Das gilt für jeden Einzelnen, aber auch für jede Organisation und jedes Unternehmen.
Das tönt gut, aber was sagen Sie jemandem, der wegen des Umbruchs in der Wirtschaft Angst hat?
Ich verstehe, dass man Sicherheit im Bewährten sucht. Das ist gut, nur reicht das nicht. Es braucht auch Entwicklung. Eine Weile kann man sich der Realität verschliessen, aber sie holt einen ein.
Wie sieht die Arbeitswelt künftig aus?
Wir werden alle mehr Verantwortung übernehmen müssen. Teamarbeit, Vernetzung, Zusammenarbeit hat schon heute einen höheren Stellenwert. Wir Schweizerinnen und Schweizer sind uns wegen unserer direkten Demokratie ja gewohnt, einbezogen und gefragt zu werden. Uns entspricht diese Form der Arbeit.
«Wandel ist für niemand einfach. Es gilt zu wissen, was man gut kann», sagt Politik-Philosophin Katja Gentinetta.
Die Wirtschaft hat grosse Fortschritte gemacht: öffentliche Arbeitsräume, Mitarbeitertreffen und Strategiemeetings, in die auch Partnerfirmen, Mitarbeitende und Kunden einbezogen werden. Eigentlich wissen alle, dass es nicht mehr reicht, einfach einmal im Jahr die Ziele festzulegen und jemanden mit der Ausführung zu betrauen. Nur gemeinsam kommen wir zu besseren Lösungen.
Aber es gibt auch Menschen, die einen «9 to 5»-Job wollen und sich nicht mit der Unternehmensstrategie auseinandersetzen mögen. Was ist mit denen?
Auch sie haben ihre Berechtigung, sofern es genau das braucht und sie ihre Aufgabe mit Engagement und Leidenschaft erfüllen. Wenn ich als Unternehmerin weiss, dass dieser Job von dieser Person gründlich und gewissenhaft erledigt wird, dann profitieren beide.
Mit den Millennials kommen junge Menschen in den Arbeitsmarkt, die ganz andere Vorstellungen haben. Wie wird das unsere Arbeitswelt beeinflussen?
Die Generation, die langsam pensioniert wird, war sich gewohnt, eine Lebensstelle zu haben. Wir, die wir in der Lebensmitte sind, sind schon flexibler, passen uns an, verändern uns. Wir haben gelernt, Vorleistungen zu erbringen und darauf zu zählen, dass sie später honoriert werden. Die Jüngeren haben, so mein Eindruck, eine ausgeprägtere Anspruchshaltung: Es muss eine direkte Rückkoppelung zwischen Einsatz und Gegenleistung geben. Ein Unternehmen kann sich auf das einlassen – und seinerseits klare Forderungen stellen. Befristete Projekte und raschere Stellenwechsel werden die Regel sein. Die Herausforderung besteht darin, das heutige Arbeitsrecht und die Sozialversicherungen dieser Realität anzupassen, ohne ihren Kern preiszugeben. Da braucht es Adaptionen, die von der Gesellschaft ausgehandelt werden müssen.
Was schätzen Sie an einem Arbeitgeber, wenn Sie ein Mandat annehmen?
Ich suche partnerschaftliche Zusammenarbeit, bei der die Kompetenzen des anderen anerkannt und als Bereicherung angesehen werden. Ein simples «Wer zahlt, befiehlt» wird beiden nicht gerecht.
Haben Sie Angst vor der Zukunft?
Angst nicht, aber Respekt. Die Veränderungen durch die Digitalisierung, die politischen Verschiebungen sind von einer Dynamik, die eine Prognose nicht zulassen. Da ist es manchmal hilfreich, die Sicherheit bei sich zu suchen: in der Arbeit, in der Familie und im Vertrauen auf einen selbst. So kann man sich auch auf Neues einlassen. Aber ja, ich bin nicht nur optimistisch, was die Zukunft angeht – neue Modelle bringen neue Möglichkeiten, aber auch neue Herausforderungen mit sich, die es zu lösen gilt.